„Verwurzelt im Judentum! Leben wir das?“

Gottesdienst der ACK im Kölner Dom zum Gedenkjahr „1700 Jahre Judentum in Deutschland“

Predigt von Pater Elias H. Füllenbach, Prior des Dominikanerkonvents in Düsseldorf.

DSC 7374Koelner Dom ACK Gottesdienst 24921 Pater Elias Fuellenbach Foto c Engelbert Broich 768x432

Lesung aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom, Kapitel 11:

1 Ich frage also: Hat Gott sein Volk verstoßen? Keineswegs! Denn auch ich bin ein Israelit, ein Nachkomme Abrahams, aus dem Stamm Benjamin.

2 Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er im Voraus erwählt hat.

16 Ist aber die Erstlingsgabe vom Teig heilig, so ist es auch der ganze Teig; und ist die Wurzel heilig, so sind es auch die Zweige.

17 Wenn aber einige Zweige herausgebrochen wurden, du aber als Zweig vom wilden Ölbaum mitten unter ihnen eingepfropft wurdest und damit Anteil erhieltest an der kraftvollen Wurzel des edlen Ölbaums,

18 so rühme dich nicht gegen die anderen Zweige! Wenn du dich aber rühmst, sollst du wissen: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.

 

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn

(hier im Dom und verbunden mit uns über das Internet)!

„Wer seine Wurzeln nicht kennt, hat keinen Halt.“ So hat es der deutsch-jüdische Schriftsteller Arnold Zweig einmal formuliert. Ja, Wurzeln geben Halt und lassen wachsen – das gilt in der Botanik genauso wie im übertragenen Sinne in unserem menschlichen Leben. Nichts anderes meint der Apostel Paulus, wenn er der jungen christlichen Gemeinde in Rom – wir haben es gerade gehört – ins Stammbuch schreibt: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“ Aber es geht ihm hier nicht um irgendeine Wurzel, nicht um Heimat oder Familie, an die wir meist denken, wenn von menschlichen Wurzeln die Rede ist, sondern um die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens, die in Rom (und andernorts) nicht vergessen werden sollen: Die „kraftvolle Wurzel des edlen Ölbaums“, in den die Heidenchristen „eingepfropft“ wurden, wie Paulus schreibt.

Als Christinnen und Christen sind wir im Judentum verwurzelt, aber merkt man uns das auch an? Ist uns wirklich bewusst, dass wir als Christinnen und Christen ohne unsere jüdischen Wurzeln haltlos sind, dass eben unser christlicher Glaube diesen Halt dringend braucht? Ich bin mir da nicht so sicher. Sicher, heute ist es unter Christinnen und Christen allgemein bekannt, dass Jesus, seine Mutter Maria und die ersten Jünger Juden waren. Aber spielt diese historische Tatsache auch im alltäglichen Vollzug unseres Glaubens eine Rolle? Das fängt schon mit unserem Umgang mit der Bibel an. Bis heute ist für so manchen Getauften der erste Teil der Bibel, das sogenannte Alte Testament, ein fremdes Buch „mit sieben Siegeln“, das weitgehend überholt erscheint, obwohl die päpstliche Bibelkommission vor nunmehr 20 Jahren erklärt hat: „Ohne das Alte Testament wäre das Neue Testament ein Buch, das nicht entschlüsselt werden kann, wie eine Pflanze ohne Wurzeln, die zum Austrocknen verurteilt ist“. Interessiert es uns wirklich, wie heutige Jüdinnen und Juden die Bibel auslegen und sie verstehen? Sind für uns die Geschichten von Mose und Aaron, vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten, vom Propheten Elija nur lästige Lesungen, die man halt im Laufe des Kirchenjahrs auch mal im Gottesdienst vorlesen muss, eine Pflichtübung, die wir über uns ergehen lassen, oder sind es Geschichten, die wir zugleich als Teil unserer christlichen Tradition erkennen, die mit unserem christlichen Glauben zu tun haben, mit denen wir uns bewusst beschäftigen, vielleicht auch an ihnen reiben, um auch unseren eigenen Glauben besser verstehen zu können?

Denken Sie nur an eines unserer schönsten Weihnachtslieder von der blühenden Rose „aus einer Wurzel zart“, das an die jüdischen Stammväter und -mütter Jesu erinnert – angefangen bei Isai (Jesse) über König David bis zur Jüdin Maria – und das ich nur verstehe kann, wenn ich die Bezüge zum Alten Testament kenne. Dieses Motiv der Wurzel Jesse ist ein schönes Beispiel dafür, dass die jüdische Herkunft Jesu, seine Verbundenheit mit der Geschichte des Stammes Davids und damit des Volkes Israel nie ganz vergessen waren. Oft sind uns diese Bezüge aber gar nicht (mehr) bewusst. Dabei singen wir in unseren Gottesdiensten Lieder, beten Psalmen, lesen und hören uralte Texte aus der Heiligen Schrift, die zu unserer christlichen Tradition gehören, aber zugleich auf die jüdischen Wurzeln unseres Glaubens verweisen.

Das gilt übrigens auch für die Texte des Apostels Paulus wie den Römerbrief, den Philipp Melanchthon als „compendium theologiae christianae“, als die Zusammenfassung der christlichen Theologie, bezeichnet hat. Tatsächlich gibt es wohl kaum einen Text im Neuen Testament, der eine so reiche Wirkungsgeschichte entfaltet hat, wie der Römerbrief: Er hat immer wieder Menschen inspiriert und dadurch Geschichte geschrieben, Kirchengeschichte: Augustinus hat sich nach der Lektüre des Römerbriefs dem Christentum zugewandt, und in ihm fand er dann auch die wichtigsten Anregungen für seine Erbsündenlehre. Viele Jahrhunderte später hat Martin Luther aus Passagen des Römerbriefs seine berühmte Rechtfertigungslehre entwickelt; und im 20. Jahrhundert, nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der Schoah, dem millionenfachen Massenmord an den europäischen Juden, war es wieder der Römerbrief des Paulus, der einen theologischen Lernprozess in Gang setzte, der bis heute nicht abgeschlossen ist: Unser christliches Verhältnis zum Judentum. Die Erklärung „Nostra aetate“ des Zweiten Vatikanischen Konzils, die einen entscheidenden Wandel im katholisch-jüdischen Dialog eingeleitet hat, beruft sich genauso auf den Römerbrief des Paulus wie der Synodalbeschluss der rheinischen Landeskirche zum christlich-jüdischen Verhältnis von 1980 auf protestantischer Seite. Viele kirchliche Erklärungen könnten hier genannt werden, denn es gibt ja inzwischen eine Fülle offizieller Dokumente zum Thema. Aber was da in Buchstaben aufgeschrieben steht, muss auch unsere Gemeinden, uns alle, unseren Kopf und unser Herz erreichen.

Allerdings ist das gar nicht so einfach. Schon der Römerbrief ist keineswegs leicht zu verstehen, und es fällt in vielen Passagen auf, wie sehr auch Paulus selbst immer wieder mit einzelnen Formulierungen gerungen hat, um deutlich zu machen, was ihn umtreibt – wie etwa die Frage, dass viele seiner jüdischen Glaubensbrüder und -schwestern in Jesus nicht den Messias erkennen können. Und doch ist Paulus der festen Überzeugung, dass Gott auch sein Volk nicht im Stich lassen wird, dass Gottes Gnadengaben unwiderruflich sind, dass am Ende der Tage Gott sein Volk und alle Völker retten wird. Und er bekennt sich voller Stolz zu seiner eigenen jüdischen Herkunft; er ist „Israelit, ein Nachkomme Abrahams, aus dem Stamm Benjamin.“

Freilich zeigt der Römerbrief auch, dass dieser Text gründlich missverstanden werden kann, wenn er mit einem bestimmten Vorverständnis gelesen wird. Gerade der Abschnitt, den wir gerade gehört haben, ist über Jahrhunderte hinweg von Christen dazu missbraucht worden, um das Judentum abzuwerten und so zu tun, als hätte Gott sein Volk verstoßen und an dessen Stelle das Christentum gesetzt. Dabei sagt Paulus klipp und klar (auch das haben wir gerade in der Lesung gehört): „Gott hat sein Volk nicht verstoßen.“ Denn „unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt.“ (Röm 11,29). Schon damals war das offenbar einigen Gemeindemitgliedern in Rom nicht bewusst. „In den heidenchristlichen Gemeinden, die Paulus betreute, hatte sich eine Überheblichkeit gegenüber den Juden breit gemacht“, wie Bischof Norbert Trelle einmal betont hat: „Die Freude darüber, auch als Nicht-Juden einen Weg zu Gott zu finden, nämlich durch den Glauben an Jesus als den Messias, war umgeschlagen in eine Arroganz gegenüber dem Volk Israel. Wenn die Juden nicht an Jesus als den Messias glauben und auf diese Weise das Heil erlangen, dann bedeutet das doch, dass sie vom Heil ausgeschlossen sind, so dachte man – ein Gedanke, der sich mancherorts bis in die Gegenwart hinein hartnäckig gehalten hat.“ Ja, „viel zu lange ist man mit einem durch die antijudaistische Tradition geprägten Vorverständnis an die Texte herangegangen und hat eine Judenfeindschaft in sie hinein gelesen, die man dann wiederum als Ergebnis der Textanalyse festhielt und sie mit Paulus als Gewährsmann von Generation zu Generation weitergab.“

Das müsste uns doch zutiefst beunruhigen, dass die Bibel missbraucht werden kann, zur Abgrenzung, ja, als Kampfschrift gegen andere verwendet wurde und bisweilen auch heute noch so verwendet wird. Natürlich haben wir einiges dazugelernt, sind vorsichtiger geworden. Offen antisemitische Predigten wird man heute in unseren Gemeinden hierzulande – Gott sei Dank – kaum mehr finden. Und dennoch beschleicht mich manchmal ein gewisses Unbehagen, wenn bewusst oder unbewusst in Predigten oder in der Katechese die jüdische Tradition zur Zeit Jesu immer noch als Kontrastfolie herangezogen wird und beispielsweise die Lehrdiskussionen Jesu mit den Pharisäern dazu genutzt werden, um das Christentum auf Kosten des Judentums strahlender und zeitgemäßer erscheinen zu lassen. Dabei geht es Jesus doch um eine religiöse Versuchung, die es zu allen Zeiten und in allen Religionen und Konfessionen gab und gibt: Dass die besonders Eifrigen und Frommen, dass also gerade die, die sich Gott besonders nah fühlen, meinen, sie seien besser als andere. Gegen diese fromme Überheblichkeit schreibt auch Paulus an, wenn er unsere Angewiesenheit auf Gottes Gnade betont und die Heidenchristen im Römerbrief ermahnt, sich nicht zu „rühmen“, sich nicht zu erheben über die anderen Zweige am Ölbaum, wenn er daran erinnert: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“

Gerade die Kirchen, wir als Christinnen und Christen, sind aufgefordert, an der Seite unserer jüdischen Schwestern und Brüder zu stehen. Viel zu lange, jahrhundertelang haben wir das nicht getan. Da wurde landauf, landab von den Kanzeln verkündet, dass Gott das jüdische Volk verworfen hätte, dass der Bund Gottes mit seinem Volk gekündigt und aufgelöst sei. Ohne eine direkte Linie vom Kirchenvater Ambrosius oder vom Reformator Martin Luther zu Adolf Hitler ziehen zu wollen, so bleibt es doch eine historische Tatsache, dass der christliche Antijudaismus Bedingung und Voraussetzung für den nationalsozialistischen Judenmord war. Der neuzeitliche Antisemitismus konnte nur deswegen so erfolgreich sein, „weil er die judenfeindliche Einstellung der Christen für seine Zwecke einkalkulierte und zu nutzen wusste“, wie es einmal ein deutscher theologischer Arbeitskreis formuliert hat, dem auch mein hochgeschätzter Mitbruder, Pater Willehad Paul Eckert, angehörte, ein gebürtiger Kölner und wichtiger Pionier im christlich-jüdischen Dialog in unserem Land.

Dass sich unsere Kirchen gleich welcher Konfession erst nach dem Holocaust, nach der Shoah, auf die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens besannen, dass erst der Schock von Auschwitz nötig war, um einen langsamen Prozess der Umkehr in den Kirchen einzuleiten, müsste uns zutiefst beunruhigen. Gott sei Dank hat es dieses Umdenken gegeben – oft nach zähem Ringen und dem jahrzehntelangen Einsatz einzelner Frauen und Männer, die wegen ihres Engagements in den 1950er und 1960er Jahren immer wieder angegriffen und von offizieller Seite sogar der Häresie und des Indifferentismus bezichtigt wurden. Ihnen ist es zu verdanken, dass es einen Wandel im christlich-jüdischen Verhältnis gegeben hat.

Zugleich bleiben wir hineingewoben in die Schuldgeschichte der Menschheit. Als Deutsche müssten wir eigentlich dafür sensibilisiert sein. Dass wir in einer Schuldgeschichte stehen, auch wenn wir selbst gar nicht schuldig geworden sind, dank der „Gnade der späten Geburt“, wie es mal ein deutscher Politiker formulierte. Aber wir können und dürfen sie auch nicht einfach wegwischen, die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen, diese Schuld unserer Vorfahren; sie prägt uns bis heute, auch wenn es inzwischen wieder Leute gibt, die sie gerne kleinreden und verharmlosen wollen.

Dasselbe gilt für uns als Christinnen und Christen: Wir sind eben nicht nur Jünger und Jüngerinnen Jesu, sondern auch Teil einer blutigen Kirchengeschichte, ob wir das nun wollen oder nicht: Die blutigen Kreuzzüge, als das Zeichen des Kreuzes pervertiert wurde und gerade am Rhein von den Kreuzfahrern blühende jüdische Gemeinden ausgelöscht wurden; die Konfessionskriege, als sich Protestanten und Katholiken gegenseitig abschlachteten und nicht wie hier heute Abend in ökumenischer Verbundenheit gemeinsam Gottesdienst feierten; ja, auch die Missbrauchsfälle der letzten Jahrzehnte gehören hierzu. All das ist ein Teil unserer Geschichte, auch wenn wir uns selbst gar nicht schuldig gemacht haben und manche es schon gar nicht mehr hören können oder wollen.

Mir scheint, dass in unserem Umgang mit dieser geerbten Schuldgeschichte sogar eine mögliche Ursache unserer derzeitigen Glaubenskrise liegen könnte, weil wir uns als individuelle Einzelpersonen nicht mehr als Teil eines großen Ganzen verstehen, so nach dem Motto: Was haben denn die Verbrechen unserer Großväter und -mütter, unseres Landes oder unserer Kirchen mit uns zu tun? Frühere Zeiten sahen das noch ganz anders. Da wurde in unseren Kirchen – gleich welcher Konfession – viel über Sünde und Schuld gesprochen, vielleicht manchmal auch zu viel. Die großen Schuldzusammenhänge, in denen wir als Familien, als Volk, als kirchliche Gemeinschaften stehen, waren dagegen kaum im Blick. Jedenfalls finde ich es auffällig, wie schwer wir uns in unseren Gemeinschaften oft damit tun. Natürlich gibt es theologisch wie politisch keine Kollektivschuld, aber eine Kollektivverantwortung. Nur wer sich das – ganz ehrlich – eingesteht, der wird auch die vergifteten Traditionen, in denen wir stehen, erkennen und sich mit ihnen kritisch auseinandersetzen können.

Wir müssen uns hier im Dom doch nur umsehen: Da gibt es antijüdische Darstellungen wie die sogenannte „Judensau“ im Chorgestühl oder das Kinderfenster. Aber es gibt eben auch andere Darstellungen, etwa die beiden großen Bibelfenster hinter mir (eines von ihnen stammt übrigens aus der alten Dominikanerkirche hier in Köln, die Anfang des 19. Jahrhunderts abgerissen wurde). Sicher, auch in ihnen und ihrer Sicht auf die Bibel spielt der Überbietungsgedanke eine Rolle, und doch sind diese wunderbaren Fenster ein deutliches Zeichen dafür, dass die Geschichten des Volkes Israel Teil unserer Tradition sind, dass wir diese Überlieferung mit dem Judentum teilen und wir sie nicht allein für uns beanspruchen oder gar vereinnahmen dürfen.

Das Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ will dazu einladen, die lange jüdische Tradition in unserem Land in ihrer ganzen Vielfalt zu entdecken, dass es nicht nur Zeiten der Verachtung und Verfolgung gegeben hat, sondern eben auch Phasen gegenseitiger Annäherung, des friedlichen Zusammenlebens und der Wertschätzung. Die Ausgrabungen aus der archäologischen Zone am Kölner Rathaus, die derzeit in Kolumba, im Museum des Erzbistums Köln, zu sehen sind, geben hiervon ein beredtes Zeugnis. Denn die Funde zeigen, dass die Steinmetze des Kölner Doms auch für die jüdische Gemeinde hier vor Ort gearbeitet und die Kölner Synagoge mitgestaltet haben.

Aber es gehört eben auch zur Wahrheit, dass jüdisches Leben in unserem Land bedroht war und bis heute gefährdet ist. Die meisten von uns können sich doch gar nicht vorstellen, was es heißt, Gottesdienst nur unter Polizeischutz feiern zu können, in der Angst vor einem antisemitischen Anschlag leben zu müssen, regelmäßig Drohbriefe und Hassmails zu bekommen. Sind wir denn immer noch so naiv, dass wir diese Hassbotschaften für bloße Worte halten, denen keine Taten folgen könnten? Sicher, die offiziellen Vertreter der christlichen Kirchen in unserem Land stehen heute an der Seite der jüdischen Gemeinden, verurteilen unmissverständlich und öffentlich den Antisemitismus, der immer wieder in unserer Gesellschaft hervorbricht – sei es von rechter oder linker oder islamistischer Seite. Aber was muss denn noch alles passieren, dass wir als Gesellschaft, als christliche Gemeinschaften und Gemeinden (und eben nicht nur unsere Bischöfe und Superintendenten) Kontakt zu den Jüdinnen und Juden in unserem Land suchen und ihnen unsere Solidarität zeigen? Nach dem blutigen Attentat in Halle, nach dem vereitelten Anschlag auf die Synagoge in Hagen… Die pessimistischen Stimmen, die Jüdinnen und Juden in unserem Land angesichts zunehmender Judenfeindschaft und um sich greifender Verschwörungstheorien äußern, die bleiben doch häufig ungehört oder werden abgetan, als wäre die Bedrohung nur eingebildet und nicht echt. Es geht um unsere Verantwortung als Christen, unsere Treue zu Gott und seinem Volk, das er niemals verstoßen hat.

Geschichte wiederholt sich nicht einfach. Wir sind dem Lauf der Welt auch nicht einfach hilflos ausgeliefert, sondern es liegt an uns. Das ist übrigens Kernbestand christlichen wie jüdischen Glaubens, dass wir nicht von irgendeinem Schicksal abhängen, das wir einfach so passiv hinnehmen müssten, sondern dass Gott uns in diese Welt gestellt hat, damit wir uns entschieden auf die Seite der Unterdrückten und Gedemütigten stellen. Als Christen und Juden haben wir Verantwortung für unser Tun und Lassen und müssen uns einmal vor Gott verantworten, wie wir unser Leben gestaltet haben, wie wir mit unseren Mitmenschen umgegangen sind – ob wir denjenigen, die verleumdet werden und Angst haben, beistehen, oder nur reden, vielleicht sogar fromme Predigten halten, aber nichts gegen die Verbreitung der Lügen unternehmen.

Der jüdische Philosoph Franz Rosenzweig hat Juden und Christen einmal als „Arbeiter am gleichen Werk“ bezeichnet. Darum geht es: Dass wir uns gemeinsam für die Bewahrung der Schöpfung, für Frieden und Gerechtigkeit und gegen den Hass in dieser Welt einsetzen. Aber gemeinsame christlich-jüdische Projekte vor Ort gibt es immer noch zu wenig, vielleicht weil wir in unseren kleiner werdenden Gemeinden zunehmend nur noch mit uns selbst beschäftigt sind und schon froh sind, wenn wir unsere eigenen Leute noch irgendwie bei der Stange halten. Aber vielleicht wäre der Blick über den eigenen Tellerrand gerade jetzt und heute wichtig, dass wir bei allem, was uns voneinander trennt (als Christen untereinander, aber eben auch als Christen und Juden), unseren gemeinsamen Auftrag für diese Welt nicht aus den Augen verlieren: Denn „wer seine Wurzeln nicht kennt, hat keinen Halt.“ Amen.